Relegation. Alles steht auf dem Spiel. Ein mehrjähriges Projekt, in dem dieses Team aufgebaut wurde. Die Baumeister des (Miss-)Erfolgs - Matarazzo und Mislintat - nicht mehr an Bord, eine finanziell angespannte Lage (nicht zuletzt aufgrund eines weiteren Stadionumbaus) und ein Kader in der Kritik.
Ausrichtung
Sebastian Hoeneß entscheidet sich für folgende Startelf:

Im Vergleich zum finalen Bundesligaspieltag ergeben sich zwei Änderungen: Silas wird durch Enzo Millot ersetzt. Hoeneß begründet dies im Anschluss unter anderem durch größere Frische und Millots spielerische Fähigkeiten. Somit wird Chris Führich wieder Tiago Tomás auf dem linken Flügel vorgezogen. Müller vertritt den noch nicht wieder genesenen Bredlow.
In der 68. Minute wechselt Hoeneß erstmals, Pfeiffer und Tomás werden eingewechselt und übernehmen positionsgetreu die Rollen von Guirassy und Führich. In der 84. Minute nimmt Hoeneß weitere Anpassungen vor, Egloff tauscht mit Millot, Nartey übernimmt den Platz des gelb-vorbelasteten Karazor. In der Nachspielzeit bekommt Zagadou noch ein paar wenige Einsatzminuten, dafür verlässt Anton seinen Posten als zentraler Innenverteidiger.
Der Spielfilm und taktische Beobachtungen
Halbzeit I
Das Spiel beginnt mit einem Spielzug, den es sich lohnt Station für Station nachzuerzählen. Der Anstoß wird zu Ito nach hinten gespielt. Der spielt einen langen Ball auf den rechten Flügel in Richtung von Guirassy und Vagnoman. Letzterer gewinnt den zweiten Ball, spielt weiter zu Endo und der verlagert auf Führich, der mit viel Platz eine Ecke herausholt. Warum ich den ganzen Spielzug nacherzähle? Weil er wahrscheinlich genau so geplant war, auf jeden Fall wiederholt so gespielt wurde und auch total schlüssig ist. Der lange Ball zu den kopfballstarken Spielern, die Verlagerung auf den dribbelstarken Führich. Die anschließende Ecke schlägt Sosa auf den kurzen Pfosten in die Nähe des Elferpunkts. Anton blockt Guirassy und Mavropanos frei, der platziert den Ball fantastisch aufs lange Eck. 1:0 nach unter 60 Sekunden - was ist denn hier los?!
Der Ballbesitz ist zu Beginn und auch über weite Strecken des Spiels gleichmäßig verteilt, die gefährlichen Situationen gehören aber exklusiv dem VfB in der Anfangsphase. Nach 9 Minuten verlagert Endo wieder auf den vollkommen freien Führich, der in die Mitte zieht und an Fernandes scheitert. Nach 21 Minuten spielt Ito in Strafraumnähe einen öffnenden Ball Richtung Mittellinie, Guirassy legt sehr klug auf den startenden Vagnoman ab. Hamburg bietet gigantische Lücken im Defensivverbund, Vagnoman spielt den Doppelpass auf Guirassy, der sich von seinen Gegenspielern bereits wieder gelöst hat und plötzlich ohne jegliche Gegenwehr der Hamburger Defensive auf Fernandes zuläuft und aus 11 Metern unplatziert, möglicherweise überhastet, den Ball in Fernandes' Arme schießt. Es geht turbulent weiter: Führich tanzt, Endo müllert den Ball zu Millot, der legt den Ball an der Strafraumkante an Reis vorbei, dieser ist nicht reaktionsschnell genug. Den Elfer schießt Guirassy, wenige Minuten nach der hervorragenden Chance (54% Torwahrscheinlichkeit nach fotmob) nun also die Chance aus 11 Metern. Ein unplatzierter Schuss auf Torwarthöhe rechts unten verhindert jedoch die frühe deutliche Führung für den VfB.
Die Reaktion auf den emotionalen Rückschlag folgt klassisch VfB-like sofort: Müller unterschätzt das HSV-Pressing nach einem harmlosen Rückpass und spielt den Ball überhastet mittig genau zu Kittel innerhalb des Strafraums, Anton kann allerdings den Ball blocken. Danach beruhigt sich das Spiel etwas, Hamburg findet nun ins Spiel, allerdings ohne größere Chancen zu diesem Zeitpunkt. In der Nachspielzeit führt ein Freistoß auf der linken Seite auf Strafraumhöhe zu der Möglichkeit für Mavropanos seinen zweiten Kopfballtreffer zu erzielen, setzt den Ball aber rechts neben das Tor.
Taktisch fällt vor allem auf, dass Vagnoman eine flexible Rolle zugeteilt bekommen hat. Er spielt häufig sehr offensiv, im Gegenpressing sogar als vierter Angreifer rechts vorne. Millot rückt dann etwas nach innen. Diese offensive Ausrichtung scheint Hamburg überhaupt nicht zu liegen. Ich habe keine Zweitligaspiele des HSV gesehen, aber offensichtlich sind sie es gewohnt, das Spiel zu machen und spielen voraussichtlich auch fast immer gegen tiefstehende Gegner. Auch generell ist diese Taktik gut gewählt, weil die vier verbleibenden Abwehrspieler alle in der Lage sind große Räume zu verteidigen (Sosa mit Abstrichen), und auch Endo und Karazor dafür geignet sind. Trotzdem tun sich häufig durch mangelnde Spielintelligenz oder Unsauberkeiten Lücken im Defensivverbund auf.
Halbzeit II
Es geht direkt weiter wie gehabt, Ecke kurz ausgeführt von Millot, Führich spielt den Ball zentral in den Fünfmeterraum, Vagnoman - drüber. Nach 50 Minuten ist es dann so weit. Sosa baut auf Führich auf dem linken Flügel auf. Hamburg reagiert nur (wenn überhaupt), so dass Führich drei Hamburger beschäftigt und dann den startenden Millot perfekt bedient. Millot läuft in den Strafraum ein, legt mit links den Ball ab, der Ball wird abgefälscht und kommt ideal zu Vagnoman. Drei Stuttgarter stehen gegen zwei Hamburger Abwehrspieler im Strafraum in dieser Situation, und Vagnoman schließt trocken rechts unten ab. Wenige Minuten später macht dann Guirassy doch sein Tor! Ecke Sosa, wieder mittig vors Tor (man ahnt es), Guirassy setzt sich gegen vier Hamburger mit sehr gutem Timing durch und der Ball "zappelt im Netz". Die Moral Hamburgs stimmt aber: Freistoß aus dem linken Halbraum, der Ball wird länger und länger und Glatzel köpft ihn Richtung kurzen Pfosten. Müller aber hervorragend positioniert und hält mit einer exzellenten Aktion die Null für den VfB.
Anschließend verflacht das Spiel etwas, Hamburg mit mehr Spielanteilen. Zwei Wechsel auf jeder Seite. In der 69. Minute bekommt der eingewechselte Suhonen rot für eine unglückliche, aber zurecht bestrafte Aktion gegen Vagnoman. Der VfB wird daraufhin aber nicht wieder aktiver; im Gegenteil, einen sehr mittig geschossenen Ball Glatzels wehrt Müller ungeschickt nach vorne ab, der VfB kann den Ball aber trotzdem klären. Die eingewechselten Pfeiffer und Tomás haben im Anschluss noch solide Möglichkeiten, verfehlen jedoch, bevor in der Schlussphase in einem unterhaltsamen Finish Pfeiffer einen scharf gespielten Ball zu Mavropanos rechts neben das Tor schlägt; Mavropanos trifft das Außennetz.
1. 6. 2023 | Relegation Hinspiel 2022/23
VfB Stuttgart - Hamburger SV 3:0 (1:0)
1:0 Mavropanos (1.)
2:0 Vagnoman (51.)
3:0 Guirassy (54.)
3 Dinge, die auffielen
1. Hoeneß coacht Walter aus
Relegation ist Stress, so viel ist klar. Und natürlich entscheidet sich in diesen Momenten vieles im Kopf. Und hier hat offenbar Hoeneß sehr gute Arbeit im Vorfeld geleistet, zusammen mit seinem Team und dem Kader. Die taktischen Anpassungen und die Herangehensweise exzellent gewählt: Sowohl die im Vergleich zu vielen Bundesligaspielen sehr offensive Taktik als auch die einzelnen Spielerrollen (Vagnoman als Joker rechts vorne oder hinten; Millot in kreativer Rolle; Führich bindet die rechte Seite) gingen voll auf. Auch psychologisch wirkte die Mannschaft nicht wie so oft gehemmt oder ängstlich, sondern geradezu entfesselt und mit großer Spielfreude. Speziell Führich war ständig on fire und auch relativ effektiv. Schön, dass der VfB diesen Schritt in seiner Entwicklung zunehmend zu machen scheint. Das Herthaspiel hat viele in ihrer Bewertung getriggert, aber es bleibt weiterhin das einzige enttäuschende Spiel unter Hoeneß. Sehr gelegen kam dem VfB natürlich die sehr frühe Führung. Aber gerade diese beiden Anfangsphasen, die sofort funktionierten, sind nun wirklich lobenswert. Während gegen Hoffenheim etwas zu viel Respekt vorhanden war, war die Marschroute dieses Mal eindeutig.
2. HSV überfordert
Es wäre jetzt Quatsch anzufangen zu analysieren, woran es gelegen hat, dass der Hamburger SV aus dessen Sicht so unter die Räder geriet. Dazu sollte man auch das Team verfolgt haben. Ich kann deshalb an der Stelle nur mögliche Gründe aufzählen:
- Der grausame 34. Spieltag, mit feiernden Fans auf dem Spielfeld ohne Handyempfang und einem Stadionsprecher in Sandhausen, der zum Aufstieg gratuliert.
- Die übliche Problematik, dass Bundesligateams in der Regel über größere Budgets ligabedingt verfügen, was sich natürlich auch in der Spielerqualität ausschlägt.
- Schwierigkeiten, sich auf den Gegner einzustellen und entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Walter ist ja für eine kompromisslose Umsetzung seines Stils bekannt. Auch wenn ich nicht die aus Stuttgart bekannten langen Ballstaffeten in der Form wahrnahm, scheint eine hoch pressende Mannschaft mit großer Offensivstärke nicht wirklich in Tim Walters Plan vorgekommen zu sein. Das ist ohne Häme gemeint, sowohl Hamburg als auch Walter hätten nach dieser Leidenszeit aus meiner Sicht den Aufstieg verdient.
3. The small things
Es ist schwer, die eine Story hier zu benennen. Es gibt so viele kleine: Pfeiffer, der endlich mal wieder länger spielen kann und sogar einige gute Aktionen zeigt. Guirassy, der unbeirrt weitermacht und sein gutes Spiel - von den Torabschlüssen abgesehen - abrundet mit seinem Treffer. Und der auch sonst emotional voll am Start zu sein scheint. Chris Führich und Enzo Millot, die wirbeln dürfen. Speziell Führich, der nach seinem von mir als "Statement-Spiel" betitelten Auftritt vor zwei Wochen nachlegt und in Galaform performt.
To be mentioned
- Relegation kann auch Spaß machen!
... Wenn das am Ende die eine Sache aus der Zeit von Alex Wehrle in Stuttgart sein sollte, mit der er voll und ganz Recht hatte, solls mir Recht sein. Aber noch will ichs noch nicht glauben.
- Ecke, Kopfball mittig
... Präzise gespielte Bälle von Sosa und Co., Kopfballmonster in der Mitte, die gut frei geblockt werden. Schönes Ding.
- In der Höhe verdient
... Viel wird geschrieben, dass der Sieg hätte höher ausfüllen können, "ja müssen". Schaut man sich das statistisch an, ist das nicht wirklich haltbar. Je nach System hätte das Spiel nach expected goals 3:0 oder 4:1 ausgehen sollen. Wer mehr Stuttgarter Tore erwartet hätte, übersieht zwei Dinge: Erstens, auch Hamburg hatte Chancen. Zweitens, zwar wurden große Chancen vergeben, aber die Tore wurden auch relativ kaltschnäuzig genutzt, was im Nachhinein selbstverständlich wirkt, aber de facto nicht einplanbar ist. - Müller & Egloff dürfen wieder
... Zwei "Sorgenkinder", beide mit Potenzial, aber irgendwo in einer Sackgasse. Ich würde mir bei beiden eine Leihe wünschen im Sommer, aber auch Abgänge wären sicherlich nachvollziehbar. Speziell Müller auch heute wieder durchwachsen wegen einzelner Momente. Kein Vorwurf aber, so in diese Drucksituation hineingeworfen zu werden, ist wirklich auch anspruchsvoll.
Man wills noch nicht so recht glauben. Meistens kommt leider in den letzten Jahren verläßlich nach einem Highlight ein Rückschlag. Und man sollte auch die Rolle des Heimvorteils auf keinen Fall unterschätzen; im Prinzip ist das mit einem Europapokalspiel zu vergleichen. Es ist wahrscheinlich, dass Montag im Rückspiel ein ganz anderes Spiel zu sehen sein wird. Man kann gespannt sein, ob Hoeneß wieder zu einer kontrollierteren Ausrichtung zurückkehrt. Trotzdem kann ich mit einer positiven Note schließen: Diese Mannschaft hat fast durchgängig bewiesen, dass sie gegen kein Team deutlich verliert. Das letzte Spiel unter Labbadia und das Wimmer-Spiel gegen Dortmund sind die beiden letzten Spiele, die deutlich verloren gingen. In der Relegation kann leider alles passieren, aber der VfB ist gut gewappnet. Langweilig wirds aber sicherlich nicht. Leider.


