Aug 28, 2023

2. Spieltag: Eine Halbzeit lang in die Fresse



Traditionsvereine gelten gemeinhin als besonders anfällig für große Stimmungsschwankungen. Was damit gemeint ist, ließ sich rund um die Partie des VfBs in Leipzig beobachten: Mit Euphorie als Tabellenführer angereist und nach einer gelungenen ersten Halbzeit in bester Stimmung, kippte das Momentum nach einer wilden zweiten Halbzeit. Muss man sich wieder Sorgen machen?! 

Schauen wir drauf.



Ausrichtung

Der VfB eröffnet in Leipzig beim österreichischen Cross-Promotion-Energydrink-Klub um 20.30 Uhr am Freitagabend unter Flutlicht den zweiten Bundesligaspieltag. Folgende Elf schickt Sebastian Hoeneß in die Manege:



Es steht somit die Elf auf dem Platz, die beim vorherigen Spieltag gegen Bochum überzeugt; mit einer Ausnahme: Millot konnte bereits die letzten Trainingseinheiten nicht mitmachen und fiel dann auch für das Leipzig-Spiel aus. Für ihn rückt Li Egloff bei seinem dritten Bundesligastartelfeinsatz in die Mannschaft.

In der 58. Minute wechselt Hoeneß zum ersten Mal: Borna Sosa ersetzt Silas, Sosa spielt Linksverteidiger in einer Fünferkette. In der 70. Minute (nun steht es bereits 3:1) ersetzt Haraguchi Egloff und Massimo Stenzel (jeweils positionsgetreu). In der Nachspielzeit kommen dann noch Leweling und Mittelstädt für Jeong und Führich aufs Feld.


Der Spielfilm und taktische Beobachtungen


Halbzeit I

Der VfB startet hellwach und sehr aktiv in die Partie, insbesondere die Mittelfeldspieler zeigen sich sehr beweglich und bieten sich ständig an, das Selbstvertrauen nach dem gelungenen Saisonstart ist sichtbar. Offensichtlich wurde ein klarer Matchplan im Voraus besprochen: Pascal Stenzel rückt bei eigenem Ballbesitz häufig nach vorne in den Raum zwischen/vor Silas und Guirassy. In der Rückwärtsbewegung spielt der VfB bei längerem Leipziger Ballbesitz mit einer Fünferkette, links verteidigt dann Führich. Der VfB agiert häufig in der Partie mit langen Bällen und agiert mit offenem Visier.

Nach einer guten Freistoßposition für Leizpig nach 5 Minuten, die aber verpufft, hat der VfB dann in der 6. Minute die erste Torchance des Spiels. Der VfB spielt schlau und flexibel hinten raus: Stenzel verlagert von rechts auf Ito in der Mitte. Dieser nimmt Flankenläufer Führich mit. Chris Führich zieht an die Strafraumgrenze und zieht halbhoch ab, Blaswich kann nur nach vorne abwehren, Guirassy schafft es aber etwas überrascht nicht mehr aus spitzem Winkel den Abpraller aufs Tor zu bringen.

Anschließend folgt eine relativ ereignislose Phase. Zwischen der 7. und 27. Minute hat der VfB 59% Ballbesitz, aber keinen Abschluss (Leipzig ebenso nur mit einem Schuss). Der Stuttgarter Ballbesitz ist folglich fast ausschließlich bei den Defensivspielern und im Mittelfeld zu finden, die sich damit aber Sicherheit holen. In der 12. Minute kommt Nübel gut aus dem Kasten um einen Steilpass auf Poulsen abzufangen, in der 16. setzt sich Raum gegen Stenzel durch, Nübel lenkt den Ball weg vom Tor. Der VfB sucht häufig Führich und Silas, die mit ihrer Schnelligkeit sicherlich besonders schwer zu kontrollieren sind. 

In dieser Phase sind beide Mannschaften lauernd, auf Augenhöhe und finden immer wieder die gefährlichen Räume, ohne jedoch dann die Aktionen abschließen zu können. Exemplarisch drei Abschlüsse von Schlager, Openda und Simons, jeweils an der Strafraumgrenze, alle rund um die 30. Minute.

In der 35. Minute dann wieder ein Stuttgarter Durchbruch: Zagadou baut aus dem Zentrum auf den entgegenkommenden Führich auf. Führich, Ito und Guirassy kombinieren sich durchs Mittelfeld. Scheinbar isoliert an der Außenlinie überflankt Führich fast aus dem Stand mehrere Leipziger und Guirassy kommt aus 5 Metern zum Kopfball, der allerdings für einen idealen Abschluss etwas zu hoch gespielt ist. Offensichtlich aber eine Situation mit Signalwirkung: Direkt im Anschluss spielt Leipzig flach heraus, der VfB stellt zu, Raum spielt in die Mitte zum antizipierenden Karazor statt Kampl. Weiterleitung zu Guirassy, der alleine gegen Simakan und Blaswich. Läuft in den Strafraum ein, lässt Simankan aussteigen und zieht den Ball mit links auf die lange Ecke ins Tor.

Leipzig reagiert erst einmal relativ kühl. Der VfB zieht sich weit zurück, Rasenballsport lässt den Ball laufen. Der VfB spielt in diesen Momenten mit 5er-Kette und davor entweder 2 oder 3 Mittelfeldspielern (Jeong changierend). Entlastung findet aus dieser Formation heraus allerdings kaum noch statt, Leipzig verlagert das Spiel in die Stuttgarter Hälfte und kann dann auch wieder und wieder anlaufen. Es häufen sich dann auch Situationen, in denen Stenzel Schwierigkeiten hat, die rechte Defensivseite zu kontrollieren. Leipzig hat dann auch nach dem Stuttgarter Tor bis zum Halbzeitpfiff 70% Ballbesitz.

In der sechsminütigen Nachspielzeit kommt dann urplötzlich und unerwartet große Unruhe in die Partie; zunächst rettet der herauseilende Nübel hervorragend gegen Openda, dann fällt Orban im Strafraum nach einer Berührung von Guirassy. Guirassy war jedoch doch von Poulsen zuvor gehalten worden. Marco Rose und die Leipziger Bank nutzen die Gelegenheit jedoch vulkanisch aktiv zu werden und stürmen nach dem Halbzeitpfiff auf den Schiedsrichter ein.


Halbzeit II

Leipzig kommt emotional und sehr scharf aus der Kabine. Zagadou kommt rechts vor dem Strafraum zu spät, den folgenden Freistoß bringt Raum zu Orbán. Aus wenigen Metern kann Nübel mit einem sensationellen Reflex den Ball über die Latte lenken. Die Situation wird zudem geprüft, das aus meiner Sicht durchaus strafbare hohe Bein von Anton gegen Orbán wird nicht geahndet. Der VfB hat keinerlei Ballbesitzphasen, das Spiel ist unruhig.

Ito spielt in der 51. den Ball zu Zagadou. Der ist mal wieder etwas überfordert damit, den Ball nur mit seinem starken Fuß gut spielen zu können sowie dem Tempo der Leipziger und "rollt" den Ball quasi zu Nübel. Nübel schießt den gegenpressenden Henrichs an - und es es steht selbstverschuldet 1:1 in einer eigentlich relativ harmlosen Situation.

Zwei Minuten später wird das 2:1 wegen Abseits aberkannt, Nübel war ein Schuss Poulsens durchgerutscht, klarer Torwartpatzer. Die Mannschaft nun verunsichert, die Bälle gehen sofort verloren im Offensivspiel. Der VfB stellt fest auf Dreierkette um. Zwischen dem 1:1 und dem 2:1 gibt es weder auf VfB- noch auf Leipzig-Seite Torchancen, Leipzig geht aber wieder und wieder in den linken und rechten Raum vor dem Strafraum und probiert mit großem Tempo durchzubrechen.

In der 63. Minute dreht dann jedoch eine Einzelaktion die Partie zugunsten Leipzigs: Olmo bekommt den Ball an der Strafraumkante, schirmt ihn ab, dreht sich gegen Anton und platziert ihn dann ansatzlos mit links im rechten unteren Eck unhaltbar direkt neben den Pfosten. 

Es kommt zum Doppelschlag: Auch die dritte Leipziger Torchance führt in dieser Phase zum dritten Tor (66.). Raum setzt sich gegen Stenzel durch, Doppelpass mit Olmo und hervorragende Flanke, die Openda nur noch reindrücken muss aus 2 bis 3 Metern. Wie das 2:1 einfach hochklassig gespielt. Der VfB versucht wieder mehr Initiative zu zeigen, aber ohne Silas sind die Möglichkeiten begrenzt, so dass hauptsächlich Sosa/Führich bemüht sind, etwas zu kreieren, was zu einer Halbchance von Guirassy in der 70. führt.

Das 4:1 ist ein Fernschuss von Kampl nach einer kurzen Ecke, der von Haraguchi abgefälscht wird und so erst gefährlich wird (74., 3% Torwahrscheinlichkeit nach fotmob.com). Mannschaft und Fans nun wie im falschen Film, das Offensivspiel kaum existent, defensiv nur noch wenig Gegenwehr. Simons kontert in der 76. das Team aus und verwandelt den Nachschuss gegen Alex Nübel. In der Nachspielzeit rettet unser Keeper noch einmal gegen Sesko, kurz danach folgt der Abpfiff.



25. 8. 2023 | 2. Bundesliga-Spieltag 2023/24

Leipzig - VfB Stuttgart  5:1 (0:1)
0:1 Guirassy (35.)
1:1 Henrichs (51.)
2:1 Olmo (63.)
3:1 Openda (66.)
4:1 Kampl (74.)
5:1 Simons (76.)


3 Dinge, die auffielen


1. Ein sogenanntes "Freakspiel"

Ich war selbst überrascht, als ich mir größere Teile des Spiels noch einmal ansah (Bitte um Mitleid an der Stelle), wie viel Zufall und Pech für das Ergebnis verantwortlich waren. Während dem Schauen in der Kneipe überwog einfach die Enttäuschung und der Schock, dass Leipzig den VfB völlig auseinandernahm, so dass mir die Nuancen etwas abhanden kamen. Die Tore zum 1:1, 2:1 und 3:1 waren die einzigen Torchancen der Leipziger in dieser spielentscheidenden Viertelstunde zwischen der 51. und 66. Minute, dabei waren zwei dieser Tore extrem hochklassig erzielt (das 1:1 hingegen war mal wieder eine Comedylehrstunde, dieses Mal von Zagadou und Alex Nübel). 

Auch ein Blick auf die expected goals, also die Torchancen gewichtet nach ihrer statistischen Revelanz, errechnet ein Endergebnis von 2:1 oder maximal 3:1 (bundesliga.de: Leipzig 2.43 - Stuttgart 0.8. Understat Leipzig 2.09 - Stuttgart 1.18). Es kam also einiges zusammen. Das ist auch nicht so ungewöhnlich im Allgemeinen zu Saisonbeginn, wo die Leistungen oft noch schwanken und die Emotionalität aufgrund der Tabellensituationen auch manchmal anders gelagert ist als später in der Saison. Rose hat es dann auch noch geschafft, diese Emotionalität ins Spiel zu bringen. Im Gegensatz zu anderen Stuttgarter "Topspielen", wo der Gegner nur halb mitspielen zu schien, hatte Leipzig dieses Mal sehr viel in die Waagschale geworfen.

Trotzdem muss man natürlich festhalten, dass Leipzigs Spielanlage, Geschwindigkeit und technische Fertigkeiten den VfB vor große Probleme stellten. Auch wenn die Tore dann doch unglücklich zustande kamen, hatte der VfB keine Spielkontrolle in der zweiten Hälfte und auch wenig Mittel gegen ständige Attacken über die Stuttgarter Halbräume.


2. Hoeneßball, defensive Stabilität und Endolücke

In der Rückrunde hatte Sebastian Hoeneß beispielsweise in den Spielen gegen Frankfurt und Leverkusen noch durchaus stabilisierende, kontroll-orientierte Elemente gegen die Spitzenteams eingesetzt. Die Partie am Freitag schien dagegen deutlich mehr "Hoeneßball" in Reinform zu sein - es wurde mit offenem Visier gespielt. Erkennbar unter anderem an der wirklich waghalsigen Spielweise Pascal Stenzels in Halbzeit 1, der fast schon als Flügelstürmer in einigen Situationen agierte. 

Der Kader ist nun auch nach einigen Anpassungen noch mehr seiner Spielphilosophie möglicherweise entsprechend: Spielstarke Spieler und schnelle, athletische Spieler besetzen fast jede Position. Das ermöglicht eine sehr quirlige, wilde Spielweise, kann aber auch chaotische Spielverläufe befördern.

Die Frage ist, ob es auch dem Team gelingt, trotzdem einen ruhigen Kopf zu behalten. Letzte Woche habe ich darauf hingewiesen, dass einige Spieler einen gewissen Reifeprozess durchlaufen haben könnten. Diese Woche waren die Gegenargumente sichtbar: Endo und Mavropanos hätten dem Team sicherlich gut getan und keiner der neuen Spieler (Nübel, Jeong, quasi Egloff) steht für Stabilität und Solidität. Es könnte also durchaus wieder Drama-Partien kommen, sofern der VfB nicht eine Balance findet (oder die schwächeren Gegner einfach überrennt).


3. "Hinterher ist man schlauer"

Ich bleibe bei meiner Einschätzung aus der letzten Woche: Hat der VfB nach drei Spielen 4 oder mehr Punkte, kann von einem gelungenen Saisonstart gesprochen werden. Durch diese brutale Landung nach dem kleinen Höhenflug wäre mindestens ein Unentschieden vor dem Länderspielpause im nächsten Match gegen Freiburg wirklich sehr willkommen. Freiburg hat allerdings am Wochenende last minute gewonnen und spielt nun bereits die zweite Saison international. Realistisch gesehen wäre auch eine knappe Niederlage kein Beinbruch. Die Dynamik innerhalb der Saison könnte aber problematisch werden, schließlich sind in der Saisonanfangsphase Punkte massivst wichtig und helfen dem Team, sich auch intern zu finden.

Insofern wird sich erst im Nachhinein sagen lassen, ob diese wilde Partie eine kleine Anekdote der Saison wird oder größere Relevanz für den Saisonverlauf hat. Lernt die Mannschaft daraus und zeigt gegen Freiburg eine reife Partie, wäre schon manches gewonnen.




To be mentioned

  • Erwartungsmanagement

    ... So schnell kann es gehen - noch nach der Partie gegen Bochum (siehe Spielanalyse) rief Hoeneß das Umfeld dazu auf, bei sich zu bleiben und die Dinge gut einzuordnen:



    Damit ist eigentlich alles gesagt. Diese Spiel war viel zu wenig relevant aufgrund des Gegners und des Spielverlaufs, um daraus die großen Schlußfolgerungen zu ziehen. Die können eher rückwirkend gezogen werden, wenn man sieht inwieweit Entwicklungen hier ihren Anfang genommen haben.

  • Emotionalisierung durch Leipzig

    ... Der VfB verlor nicht nur gegen die individuelle Klasse und den Zufall sondern auch gegen die Emotionalität der Leipziger. Ein Spiel, das bis dahin ziemlich vor sich hin plätscherte wurde mit der Situation rund um vermeintliche Tore und Elfmeter emotional aufgeladen und damit offenbar RB getriggert. Oft genug hat der VfB in den letzten Jahren von seiner eigenen Emotionalität zuhause profitiert, heute war die Mannschaft damit mal wieder auswärts überrumpelt.

  • Alex Nübel

    ... Mir gefällt, dass er relativ klar im Nachhinein über die Situationen spricht. Und es war auch kein wirklich schlechtes Spiel von ihm, dazu waren zu viele exzellente Momente dabei. Aber es ist ganz offensichtlich ein spektakulärer Spieler in beide Richtungen. Wünschenswert wäre, wenn er etwas mehr Stabilität und weniger Extreme liefern könnte, würde auch nicht nur den Nerven, sondern auch der agressiven Spielweise der Mannschaft gut tun.

  • Kaderplanung

    Man wird sich schon fragen müssen, ob gegen offensivstarke Spieler das vorhandene Personal auf der 6 neben Karazor (Millot, Egloff und Stiller im Moment) ausreicht. Sofern keine Spieler dazukommen, sollte meines Erachtens Anton oder Ito auf dieser Position auch in Betracht gezogen werden oder ein 3er-Mittelfeld eine Option sein. Mangelnde taktische Variabilität war bisher aber nun wirklich nicht das Problem unter Hoeneß.. also das sollte schon passen.


  • Wataru Endo

    .................. Captain, oh captain.




Kommentare (0)