In 16 Wochen vom No-Name-Team zur Topmannschaft: Hochverdient bezwingt Stuttgart Dortmund und steht nun im DFB-Pokal-Viertelfinale (zum zweiten Mal in Folge). Der goldene Herbst neigt sich dem Ende zu. Die Mannschaft erreicht an diesem Flutlichtabend vermutlich den ersten Saison-Peak.
Schauen wir uns die Begegnung einmal unter der Lupe an.
Ausrichtung
Sebastian Hoeneß wählte gegen Dortmund diese Startaufstellung:
Im Vergleich zum 2:0 gegen Bremen (kein Spielbericht online) kehrt Stiller zurück (für Silas) und Vagnoman ersetzt Stenzel. Millot übernimmt Silas' Position auf dem Flügel nominell, in der Praxis alles gewohnt flexibel.
Gewechselt wird in der 71. Minute: Beim Stand von 1:0 (kurz nach dem Abseits-Ausgleich) kommen Silas und Rouault für Undav und Führich. Stergiou in der 80. (für Vagnoman) und zum Abschluss Jeong und Leweling (für Guirassy und Millot) als Ehrenrunden-Auswechslungen.
Der Spielfilm und taktische Beobachtungen
Halbzeit I
Das Spiel erinnert zu Beginn an die Partie gegen Dortmund vor wenigen Wochen in der Liga: Der VfB zeigt sich passsicher und strukturiert, läuft offensiv gut an und erzwingt Dortmunder Ballverluste (zum ersten Mal bereits nach 50 Sekunden direkt am Strafraum). Dortmund ist im Ballbesitz schockierend strukturlos (oft mit flachen langen Bällen) und schiebt auch nicht ausreichend mit dem Team nach, so gelingt natürlich keine Kompaktheit - mit den entsprechenden Nebenwirkungen (kein Zugriff im Dortmunder Pressing; für den VfB die Möglichkeit Überzahl zu schaffen und Lücken im Dortmunder Gefüge zu finden). Den ersten Abschluss der Partie hat Guirassy nach 7 Minuten - ein erster Warnschuss außerhalb des Strafraums.
In der Folge beruhigt sich das Spiel in der ersten Viertelstunde. Auffällig ist die Stuttgarter Präsenz in den Zweikämpfen, auch Spieler, die nicht unbedingt optisch danach aussehen, zeigen äußerst bissige Haltungen im Kampf um den Ball (Millot, Stiller, Mittelstädt). Im Aufbauspiel stellt Dortmund die Flügel und Stiller/Karazor zu, deshalb sind aber dann häufig die Innenverteidiger frei und haben viel Zeit. Wenn Dortmund doch Kompaktheit erreicht, dann, wenn sich das ganze Team in die eigene Hälfte zurückfallen lässt. Die Dortmunder langen Bälle können die schnellen VfB-Verteidiger (Anton, Mitttelstädt, Vagnoman) gut verteidigen. Generell lässt sich ein Grundunterschied zum VfB-Pressing beobachten: Dortmund versucht passiv zuzustellen, der VfB im eigenen Pressing läuft dagegen aggressiv an.
In der 20. Minute gelingt Adeyemi einmal ein Durchbruch über den rechten Flügel, Bynoe-Gittens legt auf Sabitzer ab und der kommt unter Gegnerdruck von der Strafraumkante zum Abschluss und trifft die Latte! Das ist die individuelle Klasse von Sabitzer! Auch der VfB zeigt sich kurze Zeit später zum ersten Mal gefährlich vor dem Tor: Flanke Führich, gute Staffelung der VfB-Spieler im Strafraum, Kopfball Undav - aber Kobel ist da und lenkt den Ball halbhoch zur Ecke. Es häufen sich die gefährlichen Situationen: Kurze Zeit später rettet Kobel gegen Guirassy, der allerdings aus dem Abseits kommt und in der 26. Minute schickt Karazor geschickt Guirassy, der geblockt wird. Insgesamt funktioniert die Fünferkette plus Viererkette für Dortmund einigermaßen, aber natürlich ist das eher die Taktik eines Außenseiters und eine versierte Ballbesitzmannschaft wie der VfB beschwert sich darüber nicht.
Im Livespiel hatte ich noch den Eindruck, dass die Doppelspitze nicht so richtig funktioniert hat, im Re-Watch fällt aber auf, dass Dortmund auch in der Dreierkette große Schwierigkeiten im Stuttgarter Aufbauspiel mit der Doppelspitze hatte. Weil sich abwechselnd einer fallen lässt, müssen ständig die Dortmunder entscheiden, ob sie den Laufweg mitgehen oder nicht, anscheinend gab es da auch keine eindeutige Anweisung im Voraus. Der VfB ist nun alle zwei, drei Minuten kurz vor einem Durchbruch offensiv, Dortmund hat alle Hände voll zu tun, Situationen zu retten gegen die variable Teamleistung des VfB. Der VfB drängt.
In der Schlussphase der ersten Hälfte verflacht das Spiel dann etwas. Auch Dortmund hat wieder etwas mehr Situationen auf seiner Seite, ohne dabei wirklich gefährlich zu werden. Ein ausgeklügelter Offensivplan aber ist nun wirklich weit und breit nicht zu erkennen. In der 41. Minute ergrätscht Undav fast eine Mittelstädt-Flanke, wenig später dann eine unglaubliche Überzahlsituation, nachdem sich Dortmund desolat im Aufbauspiel zeigt und den Ball gegen Undav verliert, Undav dann aber die mitgelaufenen Millot und Guirassy nicht miteinbezieht. Schwach! Es häufen sich die hohen Balloberungen in den Schlussminuten, es soll aber in der ersten Hälfte einfach (noch) nicht sein. So auch bei Karazors Schuss aus 18 Metern nach einem Wolf-Ballverlust in zentraler Position. Man hat fast Mitleid wie Dortmund Minute um Minute den Ball auf dem rechten Abwehrflügel im Aufbau abgibt.
Halbzeit II
Wie reagiert Dortmund? Der Beginn ist abwechslungsreich. Bynoe-Gittens tankt sich direkt einmal durch, Nübel ist aber da. Zwei Minuten später zeigt sich Guirassy zum ersten Mal wieder vor dem Kasten.
Wieder und wieder zeigt sich, dass dieser VfB auf dem Kleinfeld schier unschlagbar wäre. Ist der Raum noch so klein, der Ball wird laufen gelassen und es kombiniert sich prächtig - Undav, Millot, Karazor, Stiller, Guirassy, Führich - you name it. In der 51. Minute dann die große Chance zur Führung: Wieder verliert Dortmund auf dem rechten Flügel den Ball (u.a. weil Mittelstädt hochschiebt). Führich verliert dann zwar den Ball, Mittelstädt holt ihn aber nochmal wieder, Doppelpass mit Führich und Undav hat plötzlich an der Strafraumkante viel Raum! Er findet Guirassy! Doch Kobel blockt ihn im letzten Moment im 1 gegen 1!
Während der VfB mit vielen Spielern nachschiebt (u.a. Mittelstädt und die Sechser) ist das Dortmunder Pressing immer von den Offensivspielern alleine ausgeübt und dementsprechend viele Räume gibt es um sie herum. Die fast minütlichen oder zweiminütlichen Gefahrensituationen setzen sich fort. Zunächst aber hält der VfB den Ball nach einem Abstoß für über eine Minute (zwei Dortmunder Grätschen zum Einwurf unterbrechen die Sequenz nicht wirklich). In dieser Sequenz schiebt der VfB den Ball einmal auf dem rechten Flügel nach vorne, dann über die Abwehr wieder nach hinten zu Nübel und auf dem linken Flügel nach vorne. Und wieder zurück. Über 90 Sekunden dauert es, dann erhält Millot den Ball von Mittelstädt im rechten Halbraum, völlig frei durch den Kombinationsfußball zuvor. Millot macht zwei, drei geschickte Bewegungen, tunnelt Hummels und spielt Guirassy im Strafraum an. Der blickt einmal auf den Ball, dann aufs lange Eck und zieht durch, durch Kobels Beine zum Führungstreffer!
Die "Kleinfeldfähigkeiten" der beiden zeigen sich umgekehrt in der 58. erneut: Guirassy filletiert die Dortmunder Abwehr als wäre es ein Trainingsspiel, Millot scheitert einzig an Kobel, der zu diesem Zeitpunkt Dortmund irgendwie noch im Spiel hält.
Nun wacht Dortmund aber doch auf. Füllkrug auf Gittens, mittelmäßige Abschlusssituation an der Strafraumkante, Nübel hat ihn (59.). Eine Minute später zappelt der Ball zum Dortmund Ausgleich im Netz: Adeyemi kommt mit Tempo über den Halbraum und spielt in die Mitte, Mittelstädt lenkt den Ball unglücklich in den Lauf von Füllkrug, der bedient Bynoe-Gittens, welcher nur noch einzuschieben braucht. Er steht aber recht deutlich im Abseits, das Tor wird zurückgenommen. In dieser Phase lässt sich der VfB regelmäßig überrumpeln, im Rückwärtsgang entstehen große Lücken, auch eigene Ballverluste nehmen zu, die Partie wird wilder und hektischer.
Zum ersten Mal wieder zum Abschluss kommt Guirassy aus guter Kopfballposition in der 70. Minute nach Flanke von Mittelstädt. Der Partie beruhigt sich wieder, auch durch Verletzungspausen, dann kommen Silas und Rouault rein, der VfB stellt auf Dreierkette um, Hoeneß reagiert damit sicher auch auf die zunehmenden Probleme im Rückwärtsgang mit dem Dortmunder Tempo. Die nächste Situation ist ein Hummels-Kopfball in der 74., es ist in dieser Phase etwas unstet, ohne größere Stabilität auf beiden Seiten. Bis in die 77. Minute. Dann schlägt Silas Dortmund k.o. - und das geht so: Freistoß VfB an der Mittellinie, Doppelpass Millot - Mittelstädt auf dem rechten Flügel. Millot schult mal wieder seinen Gegenspieler ein und schickt Mittelstädt in den Raum zwischen Innen- und Außenverteidigung. Er läuft Richtung Strafraum, dort läuft auch Silas ein, der erst abwartet, und dann an der Strafraumgrenze beschleunigt, den Ball perfekt in den Lauf erhält, zwei Ballkontakte, Kobel wartet und Silas legt den Ball an ihm vorbei ins rechte Toreck zum 2:0!
Mitten hinein in eine unstete Phase also der 2:0-Treffer. Ziemlich zügig danach hat Reus noch eine Topchance, vergibt aber recht kläglich (82.). Danach lässt sich Dortmund herspielen, und zollt wohl auch den vielen, vielen Saisonspielen Tribut: Silas/Guirassy 85., Stiller/Guirassy 87., Rouault/Stergiou 89., und dann zum krönenden Abschluss in der Nachspielzeit 4:1-Überzahl im Dortmunder Strafraum, weil die Dortmunder auch gar nicht mehr richtig mit zurücklaufen. Aber am Ende fehlt in der Situation auch dem VfB die Kraft und es kommt kein Abschluss mehr zustande.
2 Dinge, die auffielen
1. Traumwandlerische Ballsicherheit
Es war ein wildes Spiel phasenweise. Es gab die Phasen in denen der VfB fast minütlich hohe Ballgewinne hatte (vor allem in der ersten Hälfte), es gab die Phasen, in denen der VfB den Ball laufen ließ und es gab die Phase vor dem 2:0, wo Dortmund besser wurde und der VfB müde. Was aber vor allem vielen Fans in Erinnerung bleiben wird, ist die Ballsicherheit der Mannschaft, die Dortmund häufig wie eine Schülermannschaft aussehen ließ. Ganz extrem in der Schlussphase, als bei Dortmund der Glaube erloschen war, aber auch schon davor hatte der VfB immer ein Mittel und das obwohl Dortmund schon tief stand und versuchte die eigene Hälfte zu verdichten.
Aber das Selbstvertrauen ist aktuell so hoch, die Absicherung funktioniert so gut und die technischen Fähigkeiten auf engstem Raum vieler Spieler sind so gewitzt. Noch einmal hervorzuheben an der Stelle ist natürlich Zauberfuß Enzo Millot. Es ist aber auch ein Zugeständnis an die mannschaftstaktische Überlegenheit des Hoeneß-Teams gegenüber der Terciz-Truppe. Die Abstände passen, die Variabilität der Außenverteidiger und der beiden Sechser funktioniert in Perfektion, jede Rolle ist eindeutig vorgegeben beim VfB. Ein Trainer-Sieg. Während Dortmund gegen viele Teams, wenn es Spitz auf Knopf steht, in dieser Saison sich respektabel schlägt (bis auf München), ist die taktische Brillianz des aktuellen VfBs für die Dortmunder einfach zu viel.
2. Medienkritik
Geht es nur mir so? Ich kann's nicht mehr hören, dass der VfB ja noch vor kurzem "IN DER RELEGATION STAND" und jetzt einen solchen Fußball spielen würde. Das ist natürlich grundsätzlich einfach wahr. Aber wir brauchen es auch nicht so darstellen, als wäre das eine klassische Abstiegsmannschaft gewesen. Wie oft hatten die Gegner und Kommentatoren sich erstaunt über die Qualität des VfBs, die technischen Fähigkeiten gezeigt. Mir kommt es manchmal so vor, als hat vor allem die Phase unter Labbadia doch einiges noch einmal nach unten korrigiert in der Wahrnehmung.
Natürlich stand der VfB zurecht da unten. Weil er sich vor beiden Toren immer wieder dämlich anstellte vor allem und weil einfach irgendwas nicht so richtig passte. Aber die Qualität der Einzelspieler war immer sichtbar gewesen und die Entwicklung des Teams durchaus. Ich bin heilfroh, dass ich mich nicht getäuscht habe in der Wertschätzung dieses Teams, das aktuell alles und noch so viel mehr zeigt, was ich und viele andere in ihm gesehen haben. Danke Thomas Hitzlsperger, danke Sven Mislintat, danke Rino, danke Fabian Wohlgemuth, und ganz besonders danke Sebastian Hoeneß! Es wird dem Team nicht gerecht, wenn man nicht die Jahre davor und die Erfahrungen, die dort gesammelt wurden, auch miteinbezieht.