Es ist eine Hinrunde zum Einrahmen! Auf eine berauschende erste Hälfte folgt eine nicht einfache zweite Hälfte und am Ende steht ein verdientes Unentschieden, mit dem beide Teams leben können. Die taktisch besten Teams der Liga brillieren. Wunderbar.
Schauen wir uns die Begegnung einmal unter der Lupe an.
Ausrichtung
Sebastian Hoeneß wählte gegen das noch ungeschlagene Leverkusen diese Startaufstellung:
Der VfB startete somit mit den gleichen 11 Spielern, wie unter der Woche beim phasenweise berauschenden 2:0 gegen Borussia Dortmund im Pokal-Achtelfinale. Somit spielen wieder beide nominellen Stürmer und Millot, die bisherigen Rechtsaußen (Leweling und Silas) nehmen auf der Bank Platz.
Nach 66 Minuten ist der Arbeitstag für Enzo Millot beendet, Silas betritt stattdessen den Platz. In der 77. Minute folgen zwei weitere Wechsel: Stergiou und Leweling dürfen mitmachen, Führich und Mittelstädt (die komplette linke Seite) wird ausgewechselt. In der Schlussphase (85.) kommen Jeong und Rouault für Vagnoman und Undav.
Der Spielfilm und taktische Beobachtungen
Halbzeit I
Ich möchte heute mal etwas anders an den Spielfilm rangehen und für's Erste mal die taktische Herangehensweise in der ersten Hälfte skizzieren, weil diese schon hochinteressant ist. Zunächst einmal auffällig: Der VfB spielt bei Ballbesitz Leverkusen häufig mit Vierer- oder Fünferkette, Mittelstädt spielt dann den linken Innenverteidiger, Führich ist links hinten zu finden, Vagnoman rechts. Die Devise scheint aber zu sein: Egal wer, es macht, Hauptsache alle Positionen sind besetzt: So ist rund um die 20. Minute länger sogar Enzo Millot hinten links, weil Führich nach vorne schiebt. Generell schiebt Vagnoman gerne nach vorne durch, dann bleibt aber Mittelstädt hinten, manchmal zusätzlich noch Führich (immer Dreier- oder Viererkette hinten). Im eigenen Spielaufbau gibt es übrigens auch eine Neuerung: Nur Stiller orientiert sich an den Innenverteidigern, Karazor geht weiter nach vorne. Sinnvoll, weil fast alle Gegner die beiden Sechser zuletzt zustellten.
Generell agiert der VfB im Gegenpressing mit sehr vielen Spielern tief in der Leverkusener Hälfte - in der 6. Minute wird der Leverkusener Verteidiger im eigenen Strafraum von drei Stuttgartern umringt und gepresst. Taktisch teilt sich das Feld im Angriff wiefolgt auf: 1 Sturmspitze, dahinter vier Spieler (zwei außen, zwei innen). Außen sind es oft z.B. Vagnoman und Millot, innen einer der Sechser plus ein Stürmer. Der zweite Sechser dahinter, es ist also keine echte Doppelsechs dieses Mal, weil einer sich weiter vorne oft aufhält. Das ist jetzt alles ganz schön theoretisch, aber wenn man es sich in Ruhe anschaut, ist es wirklich sehr faszinierend, vor allem, weil immer sauber die Positionen besetzt werden, obwohl es ständig wechselt, wer wo genau steht. Undav und Guirassy tauschen sowieso konstant, aber auch auf den anderen Positionen ist einiges los. Das geht so weit, dass sogar Waldemar Anton in einer Situation (19. Minute) plötzlich fast bis an den Strafraum vorschiebt und Zagadou den langen Ball dann eben alleine gegen zwei Leverkusener verteidigt.
Nun aber zum eigentlichen Spielfilm. Der VfB legt direkt sehr aktiv los (73.5% Ballbesitz in den ersten 5 Minuten) und hat in der 3. Minute die erste kleinere Chance, die sich aus dem Gegenpressing ergibt, dann tankt sich Undav durch, am Ende kommt Führich zum Abschluss, der aber kein Problem für Hradecky darstellt. Richtig wild wird es dann aber schon wenig später (7. Minute) und zwar in vierfacher Ausführung: Wieder hat Leverkusen Probleme mit dem Gegenpressing und weiß sich nur per Foul zu helfen. Der Freistoß kommt von Guirassy halbhoch auf Ecke aus ca. 20 Metern, der Abpraller erreicht Führich, dieser und danach Undav werden aus spitzem Winkel geblockt. Der Ball landet bei Josha Vagnoman der mittig sehr viel Platz hat aber, natürlich (in Folge des Freistoß') vier Leverkusener auf der Linie gegen sich, sein platzierter Schuß rechts unten wird gerade noch so auf der Linie geblockt durch Frimpong, der sich in den Ball wirft!
Zwei Minuten später steht es nach Topchancen aber schon 1:1 - weil Adli im Konter den Ball aus spitzem Winkel von halblinks an den Innenpfosten knallt! Schwer zu sagen, ob Nübel den gehabt hätte, wenn er ein paar Zentimeter mittiger geschossen wäre. Zuvor hatte Leverkusen das hohe Pressing ein Mal überspielen können. Danach beruhigt sich das Spiel wieder etwas, nach der Anfangsphase ist der Ballbesitz erst einmal ausgeglichen verteilt, wenn es gefährlich wird, dann aber vor dem Leverkusener Tor. Undav (17.) mogelt sich etwas im Strafraum durch und bringt einen weiteren gefährlichen Schuss unter Bedrängnis zustande, den wieder Hradecky pariert. Aus meiner Sicht die gefährlichsten Situationen auf Leverkusener Seite entstehen nach VfB-Ecken: Alle drei Leverkusener Ecken in der 1. Hälfte münden in gefährliche Kontersituationen für die "Werkself".
Nachdem sich das Spiel eine kleine Pause genommen hatte nach der heißen Anfangsphase folgen in der 24. und 25. Minute auf beiden Seiten große Gelegenheiten: In der 24. drückt Leverkusen und holt sich ihrerseits im Gegenpressing den Ball nach einem schlampigen Pass von Millot. Der Ball kommt zu Frimpong, der Boniface bedient, dessen Abschluss gerät aber zu mittig aus 11 Metern. Der nächste VfB-Angriff ist dann fast das 1:0 (54% Torwahrscheinlichkeit nach Sofascore): Führich kommt über links und muss (weil Frimpong noch vorne ist) vom Leverkusener Innenverteidiger angelaufen werden. Undav und Millot erkennen das und ziehen die Leverkusener von Guirassy weg, der dann frei von Führich angespielt werden kann an der Strafraumkante! Guirassy mit dem Abschluss im Strafraum, aber das gibt es nicht! Wieder hat Hradecky den weit gespreizten Fuß dazwischen! (25.)
Mitte der ersten Hälfte stellt der VfB etwas um: Führich bleibt nun seltener auf der Verteidigerposition hinten und ist wieder auf seiner normalen Position links vorne zu finden. Dafür kann dann Millot nach rechts wechseln. Wenn Vagnoman mit nach vorne geht, entsteht dann auf dem rechten Flügel (gegen Grimaldo) schnell eine Überzahl. Und so entsteht dann in der 40. Minute auch der Führungstreffer für den VfB: Millot, Undav und Vagnoman sind auf dem rechten Flügel, Undav schickt den schnellen Vagnoman in den Strafraum, der überläuft Grimaldo - und spielt Führich am langen Pfosten an, der ungestört einschieben kann. 1:0!
Die Schlussphase der ersten Hälfte ist dann durchaus turbulent, der VfB drückt stark, aber spielt auch riskant, Leverkusen kommt fast zu einer großen Konterchance in der Nachspielzeit, der VfB hat aber einige Fast-Chancen, vor allem durch Undav. So geht es aber schlussendlich mit einem 1:0 in die Kabine. Eine erste Hälfte, die bombastisch war, wenn man sich die Qualität des Gegners vor Augen führt, den man phasenweise - vor allem in der Spielanlage - dominierte. In der aber auch Leverkusen immer wieder Nadelstiche setzen konnte und der VfB auch selbst sehr viel investiert.
Halbzeit II
Auch Trainer Alonso hat offensichtlich in der Pause einiges zu korrigieren versucht, jedenfalls verändert sich die Leverkusener Haltung zur Partie schlagartig mit Wiederanpfiff. Auf die genauen taktischen Unterschiede kann ich an der Stelle nicht eingehen, aber auffällig ist, dass Leverkusen deutlich aggressiver in die Zweikämpfe geht, mehr Läufe macht/Bewegung hat, auch viel mehr ins Gegenpressing geht statt nur zuzustellen. Extrem gut ablesen lässt sich das an der sogenannten "Interception"-Statistik, also den abgefangenen Bällen. In der ersten Hälfte hat der VfB 13 Stück, Leverkusen nur 3. In der zweiten Hälfte steht es in der Rubrik 6 zu 6, beide Teams sind also ähnlich gut positioniert und aktiv in dieser Hinsicht. Das in der ersten Hälfte so überzeugende hohe Pressing kommt im zweiten Durchgang kaum zum Tragen, erst in der Schlussphase gibt es wieder Situationen, wo der VfB versucht hoch anzulaufen.
Aber zurück zum Anfang der zweiten 45 Minuten: Besonders auffällig ist direkt in der 46. Minute Wirtz, der gleich 4 Stuttgarter nacheinander überläuft. Wenig später das 1:1 (47.). Leverkusen verlagert auf links, Grimaldo macht den Weg auf den Flügel und zieht Anton raus. Xhaka wird angespielt und spielt mit großer Übersicht direkt in den Lauf von Boniface, der in den Strafraum marschiert, und Wirtz (der sich beim Pass auf Boniface im passiven Abseits aufhält und dadurch etwas Vorsprung hat) am zweiten Pfosten anspielt, der technisch gut ins lange Eck abschließt. In der 49. Minute erobert der aufgerückte Tah im Gegenpressing in der VfB-Hälfte den Ball, spielt weiter auf Xhaka, der mit viel Platz aus vielleicht 22 Metern abschließt und mit seiner ganzen Klasse fast trifft. Pfosten!!
Es ist nicht leicht für den VfB wieder in die Partie zu finden, der Flow/das Momentum ist auf Leverkusener Seite, die dann auch entsprechend mutig attackieren und in die Zweikämpfe gehen, auch wenn sie das ganz große Risiko scheuen. Der große Vorteil, den der VfB im Gegensatz zu vielen anderen Bundesligateams sicherlich hat, ist, dass sie über den eigenen Ballbesitz sich Ruhephasen und Selbstvertrauen zurückholen könnnen. Insgesamt ist Leverkusen über weite Phasen der zweiten Hälfte viel mehr in den gefährlichen Räumen, die großen Torchancen kommen schlußendlich aber nicht zustande. Das hängt einerseits mit einer guten Raumaufteilung des tief stehenden VfBs zusammen, andererseits wirkt es bei Leverkusen dann doch auch nicht gefährlich genug teilweise, um diesen VfB richtig zu attackieren, es fehlten aber oft Kleinigkeiten nur bei Leverkusen, während die wenigen VfB-Abschlüsse in Halbzeit 2 lange komplett irrrelevant sind.
Speziell bemerkenswert ist, dass Leverkusen die üblichen späten VfB-Konter quasi komplett unterbinden kann durch das hohe Tempo der Innenverteidiger. Silas hat erst in der Nachspielzeit fast einen Durchbruch. Eine ausgezeichnete Gelegenheit zum (unverdienten) 2:1 kommt dann doch noch für Bayer 04: Ecke Leverkusen, der VfB bekommt den Ball nicht geklärt und Tah kommt recht frei, aber mit vielen Stuttgarter Beinen zwischen ihm und dem Tor zum Schuss, den er volley nimmt und knapp am Tor vorbei donnert (88.). Auch der VfB hat in der Schlussphase noch eine Ecke, kommt aber nicht durch. Insgesamt ist die zweite Halbzeit deutlich gesetteter als die erste, es wogt phasenweise hin und her, aber ohne die großen Ausschläge, mit einem Leverkusener Übergewicht.
VfB Stuttgart - Bayer Leverkusen 1:1
3 Dinge, die auffielen
1. Man darf den VfB auf Hoeneß reduzieren
Man sollte den VfB nicht auf Undav und Guirassy reduzieren. Aber man darf den VfB auf Sebastian Hoeneß reduzieren. Natürlich hat diese Mannschaft sehr viel Qualität, auch unabhängig davon, wer der Trainer ist. Aber dieses Level hätte das Team definitiv mit den meisten anderen Trainern nicht erreicht. Gerade in der ersten Halbzeit ist es eine Meisterleistung mal wieder, wie der VfB verschiebt, wie der VfB Räume besetzt und Rasenschach spielt als wärs das Leichteste der Welt. Das bedeutet nicht, dass man das Risiko scheut, es ist durchaus wild, aber es ist durchdacht und vor allem perfekt umgesetzt. Chapeau!
2. Erste Mal nach der englischen Woche nicht verloren, yeay!
Die beiden schlechtesten Spiele der Hoeneß-Zeit waren die Partien gegen Hertha letzte Saison und Heidenheim diese Saison. Eine Gemeinsamkeit: Unter der Woche gab es ein Pokalspiel (vor Hertha die Halbfinal-Niederlage gegen Frankfurt, vor Heidenheim der Sieg gegen Union). Beide Male wirkte der Mannschaft nicht präsent und auch müde.
Es war davon auszugehen, dass dieses Mal natürlich das Dortmund-Spiel eher gepusht hat, die Reisestrapazen hielten sich mit drei Heimspielen in Folge auch in homöopathischen Dosen und doch war ich gespannt, wie es laufen würde. Schließlich hat der Hoeneß-Fußball zur Zeit auch häufig den Vorteil, dass man die ganze Woche Zeit hat, sich vorzubereiten auf die Partie. Möglich, dass in der zweiten Hälfte etwas wegen dem Pokalspiel die Kraft ausging, einige Spieler schienen schon an ihr Limit zu kommen (z.B. Karazor oder Vagnoman), aber im Großen und Ganzen wurde dieses Mal die englische sehr gut gemeistert. Stiller und Karazor sind mal wieder jeweils über 12km gelaufen, und der VfB - vom enthusiastischen Publikum gepusht - rief in der ersten Halbzeit eine sensationelle Leistung - vor allem energetisch und in der Spielintelligenz - ab.
3. Der VfB steht (zur Zeit) zurecht da oben
Vor Leverkusen hat der VfB Platz 3 gefestigt, fürs Erste hat man den Anschluß sogar verkürzt auf die Bayern und kann im direkten Duell da erneut zeigen, wo man gerade steht. Egal, wie man es dreht und wendet, der VfB ist aktuell mindestens die drittbeste Mannschaft der Liga, und braucht sich vor niemandem zu verstecken. Wofür das am Ende reicht, das lässt sich noch nicht sagen, meines Erachtens, dazu sind zu viele gut besetzte Teams in der Liga und zu viel kann passieren (Verletzungen, Spielverläufe usw.). Zumindest ein einstelliger Platz sollte dieses Jahr drin sein, und wenn man bis März internationale Plätze in Reichweite hat, dann kann man sicherlich auch nochmal über eine Zielsetzung sprechen. Momentan ist es einfach nur ein Reha-Aufenthalt für die abstiegskampfgeschädigte VfB-Seele.
To be mentioned
- Ecken
Habe vor ein paar Spielen schon mal darauf hingewiesen, aber die Eckbälle sind nochmal schlechter geworden seitdem. Zumindest defensiv klappt's wieder, aber offensiv waren sie nicht nur sehr ungefährlich, jetzt waren auch noch jede Menge gute Konter möglich. Stand jetzt sollte man darüber nachdenken, einfach die Innenverteidiger nicht vorrücken zu lassen und den Eckball flach auszuspielen, schlechter wird es dadurch auch nicht werden... - Balleroberungen Anton!
Waldi, du geile Sau. - Brüder im Geiste
'Nen kleinen Stich im Herz gibt's schon, wenn ich darüber nachdenke, dass in ein, zwei Saisons die Mannschaften vermutlich wieder ganz anders aufgestellt sein werden. Xabi Alonso wird natürlich so oder so nicht allzu lange in Leverkusen arbeiten, einige Spieler werden auch wieder weiterziehen. Und beim VfB wird es natürlich auch einen (finanziell notwendigen) erneuten Aderlaß geben. Schon schade, weil hier zwei Teams aktuell die Liga aufwühlen, die taktisch überlegen sind, die einen schön anzuschauenden, modernen Ballbesitzfußball spielen, der Schnelligkeit und Kontrolle vereint. Eine Ära wird es aber wohl leider nicht prägen, aber vielleicht eine kleine Ausnahmesaison für mindestens eines der beiden Teams. Und zumindest ein bis zwei Saisons wird uns diese Trainer-Konstellation wohl erhalten bleiben. Schon erhaben, zwei so ähnliche Teams zu sehen, die gleichzeitig so gut sind. Individuell, aber auch gruppentaktisch.